Anpassungsfähigkeit
Tiefgehende Ueberlegungen, wie sich soziale Systeme, staatliche, kirchliche und private Institutionen, aber auch Individuen zu positionieren, zu organisieren und zu verhalten haben, um langfristig erfolgreich im Sinne eines grösseren Ganzen zu agieren, wurden in St. Gallen schon sehr früh, spätestens nach dem 8. Jahrhundert in der klösterlichen Gemeinschaft angestellt. Eindrucksvolle Schriften in der heutigen Stiftsbibliothek zeugen davon. Der beispiellose Wirtschaftsaufschwung nach Napoleons Zeiten im 19. Jahrhundert erforderte über die Zeit hinweg immer konkretere Handlungsanleitungen. Die Gründung der Handelshochschule St. Gallen 1898 war die Antwort auf diesbezügliche Ausbildungserfordernisse, der Standort Ostschweiz mutierte gar zusammen mit den Anliegerländern zu einem der erfolgreichsten Wirtschaftscluster vor dem Ersten Weltkrieg.
Hans Ulrich
Fast 30 Jahre brauchte es dann nach den Weltkriegszäsuren, bis sich angesichts erneutem Wirtschaftswachstums am Horizont wiederum Anleitungs- und Steuerungsnotwendigkeiten für das Management abzeichneten: Was dann 1971 mit einer Schrift von Hans Ulrich und Walter Krieg mit dem Titel “Das St. Galler Management-Modell” begonnen hatte, hat sich bislang – aller Moden und Hypes zu Trotz – als höchst anpassungsfähig, wandelbar und überlebenstüchtig erwiesen. Damals ging es darum, “dem Manager ein Konzept als Leitplanke für seine Überlegungen an die Hand zu geben, um wesentliche Probleme des Managements strukturiert durchdenken und zu einem integrativen Gesamtkonzept zusammenfügen zu können”. Diese Einordnung stammt von Knut Bleicher, der als Professor an der heutigen Universität St. Gallen Hans Ulrichs Arbeit weiterführte und dessen Management-Modell zusammen mit Kollegen zum „Konzept Integriertes Management“ weiterentwickelte.
Nun ist unter der Schriftleitung von Christian Abegglen bereits die 9. Auflage des Buches mit eben diesem Titel erschienen: Bleicher hält nach wie vor fest, wie schon oft geäussert, dass die vorgenannten beiden Autoren von 1971 ihre Aufgabe erfüllen wollten, “ohne präskriptive Lösungen vorzuzeichnen”, und sie seien ihrem Auftrag gerecht geworden, “ein Leerstellengerüst für Sinnvolles” bereitzustellen. Dieses Gerüst war offenbar flexibel genug, um immer neue Elemente aufzunehmen, und der Erweiterungsprozess war massgeblich durch Bleicher, aber auch Gomez, Pümpin, Malik, Probst, Schwaninger und einige weitere Wissenschaftler geprägt. Für Bleicher trat Ende der neunziger Jahre dann nach der Emeritierung und der Uebernahme der Wissenschaftlichen Leitung der ausschliesslich auf erfahrene Führungskräfte ausgerichteten SGBS St. Galler Business School das Anliegen in den Vordergrund, “Strategien und Folgen eines paradigmatischen Wechsels zu neuen Formen intelligenter Wissensunternehmungen in virtuellen Netzwerken darzustellen, die nicht nur einen fundamentalen Wandel des Unternehmungskonzepts, sondern auch ein lernendes Anpassungsverhalten verlangen”. Damit war er seiner Zeit weit voraus und prägte in diesem Sinne die Evolution des Modells „Konzept Integriertes Management“ auf seinem Weg. Die 10. Auflage erscheint im Herbst 2020.
Exkurs: Andere Weiterentwicklungen des ursprünglichen St. Galler Modells fokussierten eher auf ethische Aspekte im Sinne eines Corporate Citizenship und vor allem auf prozessoptimierende Überlegungen und mündeten im Neuen St. Galler Führungsmodell von Johannes Rüegg-Stürm. Umfassende Informationen liefert hierzu: sgmm.ch.
"in der Wirtschaftspraxis nach dem Platzen der E-Business-Blase einige Irritationen entstanden"
Ähnlich stellt sich die Situation aktuell auch in vielen Unternehmungen, auf betriebswirtschaftlicher Ebene dar. Angesichts der rasch vonstatten gehenden Digitalisierung der Wirtschaft und ihrer Geschäftsmodelle liegen die entscheidenden von einer Führungskraft zu beeinflussenden Stellgrössen plötzlich teilweise und zunehmend ausserhalb des eigenen Unternehmens und damit nicht mehr im eigentlichen Einflussbereich. Dadurch werden Wertschöpfung und Führung hochkomplex und das Verstehen der diesbezüglichen Vorgänge und Entwicklungen, welches dann ggf. ein radikales Neukonfigurieren des eigenen Unternehmens und Führungsverhaltens nötig macht, wird zur unternehmerischen und persönlichen Ueberlebensausrüstung. Klar ist dabei, dass ein hierarchisch, tayloristisch organisiertes System nicht in der Lage sein kann, die komplexen Interdependenzen tauglich abzubilden. Fehlentscheidungen, Entscheidungsunfähigkeit und die Wirkungslosigkeit von Führung stehen damit in Rede.
Auch hier zeigt sich einmal mehr die Robustheit und Zukunftstauglichkeit des Konzeptes. Denn dank der frühen Erkenntnis, dass Unternehmen als intelligente Systeme in einem virtuellen Netzwerk zu agieren haben, stellt das „Integrierte Konzept” auch heute nach wie vor die zentrale Säule des St. Galler Managementverständnisses dar und gilt als ein Standard der modernen Management-Lehre im deutschen Sprachraum. Zu Recht, weist es doch nach wie vor den Weg zur erfolgreichen Führung – zur Führung in Hochleistungsnetzwerken, zur Führung über Gemeinsamkeiten in Sinn, Vision und Werten. Bewusst wird mit diesem Konzept im übrigen auch ein deutlicher Gegenpol zum speziell im anglo-amerikanischen Raum häufig zu beobachtenden eher eindimensionalen Management-Denken gesetzt.
Das Konzept wurde in den letzten Jahren – in der Folge von New Economy, Finanzkrise und Corona in der Praxis immer von neuem auf den Prüfstand gestellt, angepasst und mit umsetzungstauglichen Konkretisierungen versehen. Das “Integrierte Konzept” bietet deshalb heute -genauso wie vor über 30 Jahren – eine geeignete Referenzarchitektur zur Darstellung und Lösung unternehmerischer Fragestellungen und kann zu Recht als höchst anpassungsfähig bezeichnet werden.